Gehzeit Aufstieg stimmte mit 7 Stunden, Abstieg aber ingesamt ca 8 Stunden (ohne Pausen)
Über das Camp tröten Vuvuzelas und wecken uns endgültig aus unruhigem Halbschlaf. Es ist gerade mal halb elf in der Nacht, Zeit zum Aufstehen für das große Finale. Über das ganze Camp flackern Stirnlampen, und um uns herum ist hektische Aufbruchstimmung, der wir uns anschließen. Das Frühstück ist spartanisch (ausgerechnet jetzt, wo wir jede Menge energy brauchen – ein ständiger Spruch unseres großen Führers, um uns zum Essen zu animieren), aber wir haben auch keinen großen Appetit. Warme Pullover, Jacke, Mütze, Schal, Handschuhe, headlamps – nicht zu vergessen heißer Tee und Müsliriegel, in meiner rechten Jackentasche viele kleine Traubenzucken und mein kleiner Musikspieler. Wer weiß, wozu es gut ist!
Unsere Guides nehmen uns netterweise wieder unsere Rucksäcke ab, so dass wir außer uns selbst nur noch die Stöcke brauchen – es kann losgehen. Remid muss unseren Gipfelsturm noch schnell amtlich registrieren, ohne das geht auf der ganzen Tour gar nichts.
Es ist sternenklar, die noch fast volle Mondin steht rechts vor uns am Himmel, zur Linken hoch droben leuchtet der Gletscher, und vor uns der Weg, der durch Dutzende von kleinen Sternen markiert ist: die Stirnlampen der Leute, die schon vor uns auf dem Weg sind, kerzengerade scheinbar bis zum Himmel. Über eine kurze steile Felsstrecke kommen wir auf einen engen Zickzackweg, der uns über Stunden steil nach oben bringt. Die Sterne kommen zwar nicht so schnell näher, dafür leuchten unter uns ganz viele Nachfolger. Es hat etwas Atemberaubendes, ein Teil dieser leuchtenden Sternenkarawane zu sein.
In regelmäßigen Abschnitten machen wir einen waterbreak, der hauptsächlich aus gesüßtem Tee besteht, und essen dazu unsere Müsliriegel. Das hält uns tatsächlich fit – wir fühlen uns gut und haben keine Zweifel (sogar ich nicht mehr), den Gipfel zu schaffen (im Gegensatz zu anderen, die uns erschöpft und halb bewusstlos wieder entgegen kommen und es nicht schaffen). Die kurzen Pausen reichen uns zur Erholung, und bald liegt der Gletscher nicht mehr weit vor uns, sondern neben uns – es wird richtig kalt. Schon die ganzen Tage her und auch heute Nacht haben wir ein Riesenglück mit dem Wetter: Kein Regen, kein Sturm, kein Schnee oder andere Widrigkeiten – einfach perfekt!
Bei einer unserer Pausen stecke ich mir meine Musik ins Ohr, und Vivaldi, Mozart, Brahms, Wagner und Sibelius helfen mir über weite Strecken den Berg hinauf. Leider muss ich in der Gletscherregion dann plötzlich darauf verzichten – vielleicht wurde es den Herren einfach zu kalt. Dabei hat es hier höchstens minus 8-10 Grad. Aber jetzt ist Hilfe auch nicht mehr nötig, denn Joseph deutet nach oben und spricht ehrfurchtsvoll den erlösenden Satz aus: This is Stella Point! No people, no stars – Stella Point! An diesem Punkt gilt der Kilimandjaro als bestiegen.
Die letzten Höhenmeter steigen wir durch Sand und Geröll, bei dem man immer wieder wegrutscht – ein mühsames Nachobenkämpfen. Aber da habe ich die Stimmen meiner kids im Ohr: Ja, Oma, du schaffst es, gleich bist du oben! Und so war es auch. Noch ein paar letzte Schritte: Wir habens geschafft!
Wir sind oben!
Zeitgleich auf die Minute färbt sich der Horizont glutrot, ein dünner Faden erst, der aber rasch zu einem leuchtenden rot-goldenen Band wird – die Sonne geht auf! Nur für uns! Und wir fallen uns vor Freude in die Arme – ich kann die Tränen nicht zurückhalten. Und voller Begeisterung schauen wir uns um, ein traumhafter Blick – unter uns liegt ganz Afrika! Es wird rasch hell, und der restliche Weg bis zum Uhuru Peak ist fast überschaubar und nicht schwierig. Tja, was hatten wir uns da unnötigerweise Sorgen gemacht, alle Infos aus dem Internet und sonstiger Kili-Erfahrener können wir nicht teilen. Wir müssen uns nicht durch Sturm und klirrende Kälte oder Regen und Schnee zum Gipfel kämpfen, wir haben keine lähmenden Kopfschmerzen, wir haben keine Halluzinationen und es ist uns nicht schlecht und schwindlig. Nein, wir sind topfit und in ca. einer halben Stunde am eigentlichen Ziel angekommen: dem markanten "Gipfelkreuz" des Uhuru Peak. Wie viele Gipfel-Bilder haben wir in den letzten Monaten angeguckt. Hurra, das gibt's tatsächlich!
Wir sind heute Morgen zwar nicht die Ersten und auch nicht die Einzigen, aber auch nicht die Letzten!!! an diesem Platz, und wir sind hier! Vor Freude stoße ich mehrere Schreie aus, und dann dürfen unsere Guides und auch andere Gipfelstürmer viele viele Bilder von uns machen, um unseren Triumph zu dokumentieren und zu beweisen, dass wir wirklich und tatsächlich hier auf dem Gipfel stehen.
Die ganze Welt liegt unter uns, fast sechstausend Meter tiefer. Und die Sonne strahlt mit uns um die Wette!
Vor einigen Tagen hatten wir Remid erklärt, dass man in Deutschland den liebevollen Begriff der "alten Schachteln" kennt, zu welchen wir uns (manchmal) zählen, auf Englisch eben old boxes, in unserem Fall two old boxes, abgekürzt TOB. Nun wurde gekalauert TOB on the TOP! Die alten Schachteln ganz oben – Remid findet das ungeheuer lustig, und wir sind stolz auf uns old boxes.. Insgeheim hatten wir den Eindruck, dass die Guides unter sich Wetten abgeschlossen hatten, wer es auf den Gipfel schafft. Auf unsere Fragen ist Remid immer ausgewichen – aber ich glaube, er hat auch gewettet, dass er uns hochbringt und jetzt ist er genauso stolz wie wir: Diese Wette hat er gewonnen.
Auf dem Rückweg befreien wir uns nach und nach von Mütze und Schal, Jacke und schließlich auch vom warmen Pullover, denn schnell hat uns die Sonne erwärmt, und Hut und Sonnenbrille sind jetzt gefragt. Der Weg abwärts, durch Sand und Geröll, ist mühsam und quälend – wir sind froh, als wir endlich nach dieser Rutschpartie im Quartier ankommen.
Unsere Mannen begrüßen uns überschwänglich und gratulieren uns voll sichtbarer Freude. Wir bekommen eine Stunde zum Ausruhen. Helga wirft sich ins Zelt, mit Sack und Pack, und da ich ein nettes Mensch bin, zieh ich ihr die Schuhe und Strümpfe aus. Noch ehe das warme Waschwasser ihre Füße erreicht ist sie eingeschlafen. Ich kämpfe mit der Hitze im Zelt und habe - jetzt - etwas Atemnot und bin froh, als wir zum Lunch gerufen werden, auch wenn das bedeutet, dass wir uns wieder in die Schuhe werfen müssen, denn es liegen noch 2.000 Höhenmeter abwärts vor uns. Das ist der Preis des Erfolgs, die berühmte Kehrseite der Medaille. Aber, wir sollten ja nicht an den Rückweg denken - da haben wir den Salat …
Zugegebenermaßen ist die erste Hälfte des Weges sehr schön, nicht allzu steil (bis auf einen felsigen Steilabhang gleich zu Beginn), wir laufen frohen Mutes zwar eine weite Strecke, die aber gut zu gehen ist. Als "High Hut" ins Blickfeld kommt, schon zu Beginn der Regenwaldregion, können wir es erst nicht glauben. Und tatsächlich: Dieses Camp ist nur Zwischenstation, wie Joseph uns erklärt, die Hälfte des Weges. Tausend Höhenmeter sind also geschafft, da werden wir doch die zweiten tausend auch noch überleben.
Der "Weg" von High Hut zum Mweka Camp besteht in der Hauptsache aus einem Hohlweg voller Sand und Geröll. Geröll bedeutet in dem Fall, dass das Gestein sich mit uns talabwärts "röllt", sprich, jeder Schritt rutscht, mühsam ist und unsicher. Ein um die andere Stunde kämpfen wir uns abwärts und werden immer stiller, unsere Begleiter dafür umso eifriger in ihrem Gespräch. Je länger ich ihrem endlosen Hin und Her zuhöre, desto nervöser macht mich das. Joseph ist auch sonst keine große Hilfe, denn er erklärt auf Nachfrage mehrfach, es "sei nicht mehr weit, so quasi noch eine Biegung, und wir sind da" – bis ich drohe, ihn mit meinem Stock zu erschlagen, wenn er noch ein Wort von sich gibt. Er ist erstaunt, scheint es mir aber nicht übel zu nehmen – offenbar kann er sich denken, dass wir erschöpft und todmüde sind. Als wir den ersten Blick auf das Camp werfen können, liegt es immer noch weit unter uns in der Tiefe des Regenwaldes: Oh Goddess! Aber wir schaffen es, auch wenn der Weg scheinbar unendlich gewesen ist. Und unser Zelt steht da mitten im Wald, es gibt Essen und Tee, das letzte Mal Abendessen auf dieser Tour. Und das letzte Mal Abendtee, Abendwaschwasser, im Wald pinkeln, den Schlafsack zusammen stecken, die Kleider in die Ecke schmeißen, Zähne putzen (haben wir?), schlafen. Nur noch schlafen, tief und traumlos!
Eines langen Tages Reise in die Nacht ...