Bericht über die Reise zweier Hexen nach San Francisco

zu Halloween 2002
Helga Gebauer und Isabella Nohe

<< zurück | weiter >>

3. Tag: Donnerstag, 31. Oktober 2002

Ein ganz ungewöhnliches morning up! Der erste Griff zum Fernseheinschalter, schließlich müssen wir ja wissen, was in SF und im Rest der Welt los ist (wobei sich der Rest der Welt hier hauptsächlich auf USA beschränkt – gibt’s da sonst noch was?). News, weather, und der Zustand der Straßen, „ferries in schedule“ – na prima, was man im stadteigenen Sender so alles erfährt, der Tag kann beginnen.

Die Wettervorhersage für die nächsten Tage ist traumhaft: durchgehend sonnig und warm.

Heute ist Happy Halloween und wir sind gespannt, was uns erwartet. Helga ist früh (sehr früh!) wach (was sie die ganzen Tage tapfer durchhält – für mich bedeutet dies, dass so kurz nach Mitternacht das Licht angeht und Helga pfeifend im Bad verschwindet... [Pfeifend muss Isabella geträumt haben – ich war's jedenfalls nicht hg]) und danach geht sie netterweise Kaffee holen. Während sie einen Frühspaziergang macht, versuche ich mich mit der Duscheinstellung – das kalte Wasser tut mir aber ganz gut. Später finde ich heraus, wie es wärmer gestellt wird (ehrlich: die weitgereiste Helga muss es mir erklären). Nach dem Kaffeegenuss (warum sparen die Amerikaner nur am Pulver?) geht es mit Rucksack und Stadtplan los.

Good morning Happy Halloween. Diese Stadt ist wirklich verrückt. Alles redet von Halloween, aber wir haben uns diesen Termin ja mit Bedacht ausgesucht, um vielleicht etwas dazuzulernen. Was bei uns am 31. Oktober merkwürdig aussehen würde: Die Menschen sind teilweise morgens schon verkleidet. Das kann ja heiter werden. Wir wollen aber heute morgen erst einmal den Pazifik suchen – bislang haben wir uns ja „nur“ in der Bay-Area herumgetrieben.

Nach einem Hamburger-Breakfast sucht Helga, die Busspezialistin, die richtige Linie heraus, die uns Richtung Westen und Lands End bringen soll. Eine lange Fahrt entlang der Geary (die erst Street, dann Speedway, schließlich Boulevard heißt), zuerst noch durch die Großstadtstraßen, dann immer weniger „großstädtisch“, nach 30 min Fahrt und x-mal umsteigen schaut es aus wie in einem südlichen Küstenstädtchen (wer kennt die nicht aus den vielen Krimis von Los Angeles u.ä.) Ich zähle von der 3rd bis zur 33rd Street – und frische dabei Gelernt-vergessenes wieder auf. Wir sind bei Hausnummer 1370 angelangt – hier ist Ende der Fahrt. Wir sind an einem Punkt, wo die Bay endet (oder beginnt, je nach Sichtweise ..) und das offene Meer vor uns liegt. Ein langer Strand, ein paar Mutige (na ja, mit Neopren kann schließlich jede/r), der Pazifik in der Sonne lockt zwar zum Baden, ist aber doch lausig kalt.

Beim alten Leuchtturm hat in den 20er Jahren eine reiche Familie aus SF eine Art Volksbad am Meer eingerichtet. Inzwischen gibt es hier zwar ein Lokal, einen kleinen Laden, ein Museum für mechanische Orgeln und ähnlichen Schnickschnack, (und netterweise ein Klo), aber die große Badanlage besteht nur noch aus Ruinen und wir stapfen zwischen denselben herum – sehr gefährlich ist es an den Klippen, aber wir müssen natürlich direkt am Wasser und über die Felsen entlang kraxeln.

Belohnt werden wir mit einem wunderbaren Blick zur Golden Gate-Bridge, im herrlichen Sonnenschein kann man es hier schon aushalten. Auf kleinen Felsinseln entdecken wir sogar Pelikane. Helga verbietet mir, einen Schluck Wein zu trinken (ein Rest von gestern Abend in meiner pocket-bottle), und es stellt sich heraus, dass sie nicht unrecht hat – der Weg wird ziemlich ungemütlich.

Nachdem wir uns dann vernünftigerweise zu einem ordentlichen durchgekämpft haben, kommen wir – vorbei an frau-hohen wilden Senfpflanzen – wieder in bewohntes Gebiet und sind überraschenderweise nach kurzer Zeit schon fast am Ziel unseres Vormittags: Dem Museum der Ehrenlegion – schließlich sollen Bildung und Kultur bei unserer Reise auch nicht zu kurz kommen. Ein leicht verrückter Mensch nimmt uns am Eingang unsere Taschen ab (und fragt uns Löcher in den Bauch, als er hört, dass wir Deutsche sind: er kennt einen Spruch von Heidelberg – na ja, immerhin!).

Das Museum ist ein ziemliches Durcheinander aller möglichen Kunstrichtungen, und in die sicher interessante Sonderausstellung über Ägypten wagen wir uns nicht mehr hinein: Meine Füße streiken, wir haben Hunger, und es ist viel zu heiß. Also schlagen wir uns in Richtung Museumscafe, wo uns ein Vampir ein kleines Mittagessen serviert, das wir im Freien unter großen Bäumen genüsslich verzehren (zusammen mit einer Bande kleiner frecher Vögel, die bis auf unsere Teller hüpfen).

Genug ausgeruht: Wenn wir uns jetzt etwas beeilen, erreichen wir vielleicht noch die 4-Uhr Rundbay-Fahrt, die in unserem Allroundticket kostenlos enthalten ist, und so wetzen wir zur Bushaltestelle. Es klappt; diese Busse fahren wirklich sehr praktisch und oft! Es gibt zwar keinen Fahrplan, man wartet einfach auf den nächst kommenden, aber Helga meint, die Buslinien seien recht übersichtlich -- und tatsächlich, wir kommen immer überall hin! Auch an diesem Mittag sind wir pünktlich zur letzten Fähre am Wasser, sind sogar die ersten in der line, und natürlich müssen wir auf der „Golden Bear“ (der Bär ist übrigens das Wappentier von Kalifornien) ganz vorne sitzen. Als wir uns der Golden Gate-Bridge zu Wasser nähern, werden die Japaner im Schiff völlig verrückt (wir auch!) und fotografieren sich und die Brücke in allen denkbaren Positionen. Es ist ein ganz großes, wenn auch sehr stürmisches Vergnügen, unter dieser weltberühmten Brücke durchzufahren, -- wirklich nur der eiskalte Pazifikwind ist an meiner Träne schuld. 

Wir beschließen, am Hafen noch etwas zu essen, es wird ja vermutlich eine lange Nacht werden. Helga steuert ein Lokal an, in dem mir schon unterm Eingang hundeelend wird – ich bin doch sonst nicht so empfindlich. Es riecht merkwürdig und ich fühle mich wie schwanger. Wir wechseln ins daneben gelegene -- hier fängt (zur Strafe) kurz nach unserer Essenbestellung eine Lifeband an zu spielen – Hilfe!

Müde kämpfen wir uns zum Hotel zurück. Aber, nun fängt der Tag (pardon, die Nacht), ja erst richtig an.

Es gibt eine spezielle Halloween-Ausgabe des San Francisco Chronicle, und Helga will (per Fuß – das sind höchstens so ca. 5,7 Kilometer!) ins Castro-Viertel. Dort sei – nach der Zeitung und ihrer speziellen Information – die Hauptäktschen. Mir ist etwas mulmig zumute, zum einen, weil sich offenbar nun der Jetlag bei mir breitmacht, ich hundemüde bin, und es mir einfach rundum elend ist (schließlich bin ich auch keine zwanzig mehr und wir haben ja ein paar Tage hinter uns, die es bereits in sich hatten), zum andern aber, weil nach dem Reiseführer vor dem Besuch des Castro-Viertels (FN) bei Tag schon (!!!) gewarnt wird [Hier rächt sich, wenn die Reiseführer noch von der vorletzten Jahrhundertwende stammen. In meinem Reiseführer stand jedenfalls, dass das Castro-Viertel unbedingt besucht werden soll: The Castro is the geographic center of San Francisco. The population is about 70% gay, but there are many heterosexual couples and families on the streets. The area has a neighborhood feel and is very safe, thanks to the money and effort expended by its residents.  Local shops abound and chain stores are almost non-existent. hg].

Jetzt strömen Tausende dorthin – wir auch! [Männer sind doch die schöneren Frauen – gell Isabella?] Diese schnöden Touristen sind noch nicht einmal verkleidet, dafür die Einheimischen umso mehr. Helga fotografiert wie eine Wilde all die toll kostümieren (halbnackten ..) – unglaublich, wie viele schwule und lesbische Pärchen fröhlich hier herumhüpfen (wieso aber auch nicht?). Das Gedränge wird unvorstellbar, besonders vor den Kneipen, wo auf Balkonen oder Dächern ganz spezielle Vorführungen stattfinden.

Dazwischen immer wieder Menschen, die in einem Pappkarton stecken mit der Aufschrift: Lost people! Er stimmt also doch, der Spruch von den Menschen, die spurlos verschwinden, und von denen behauptet wird, sie seien alle in San Francisco wieder gesehen worden. Ein großes Kompliment für diese Stadt.

Hilfe – hier finde ich nie wieder heraus. Wir biegen in eine schmale Seitenstraße ab (ohne eigentliche Absicht, wir werden einfach geschoben), die völlig von Menschen verstopft ist – Luftholen ist nicht mehr. Hoffentlich verliere ich Helga nicht, aber die legt gerade ohne Rücksicht auf Verluste (der Verlust wäre in dem Fall ich) einen Speed hin, der es mir schwer macht, ihr zu folgen. Falls ich jetzt ohnmächtig werde (und es ist nicht weit davon entfernt), werde ich hier in dieser wunderbaren Stadt an diesem verrückten Abend bei Mondschein still vor mich hinsterben (begrabt mein Herz an der Biegung der Bay). Es ist ein ganz unvorstellbares, schrecklich-schaurig-schönes Riesengetöse – hatte ich da nicht so eine Vorstellung über Halloween mit niedlichen kids, die verkleidet und mit einem Säckchen in der Hand durch die Straßen ziehen, an netten Vorort-Haustüren klingeln, und sweets oder Streiche von liebevoll-nachsichtigen mammys and daddys „fordern“. Tja, da war ich aber doch ganz verkehrt! Gordys and Marys tanzen zu ohrenbetäubender Musik in schrillen Glitterkostümen (wenn überhaupt) – ich fühle mich zeitweise wie eine Voyeurin. Jetzt ein Schnaps!!! Leider haben wir daran überhaupt nicht gedacht, aber zum Glück treffen wir auf einen Laden, der (nach der Sogwirkung zu urteilen) offenbar Trinkbares verkauft. Eine lange Schlange hat sich davor gebildet, und die Menschen – trotz des allgemeinen Chaos – bilden brav eine line und stellen sich an. Sobald jemand mit einer kleinen braunen Papiertüte in der Hand den Laden verlässt, darf eine/r hinein, und Helga stellt sich an, um nach Ewigkeiten wieder mit einer ebensolchen braunen Tüte mit einer Bierdose darin wieder zu erscheinen. Inzwischen bin ich nassgeschwitzt vor blankem Entsetzen bei dem Gedanken, wie ich durch diesen Hexenkessel jemals wieder zu unserem Hotel finden könnte, falls sie spurlos auf Nimmerwiedersehen verschwunden bliebe (schließlich ist Halloween, und wie war das mit all diesen Freddy Krügers in den Gruselfilmen?)

Helga hat Mitleid mit mir, wir setzen uns „leicht“ erschöpft auf ein Mäuerchen, direkt neben einem am Straßenrand stehenden Polizistenpärchen, das den Vorbeilaufenden schnöde die braunen Tüten wieder wegnimmt und in einen Container wirft. Alkoholische Getränke auf der Straße, das ist trotz Festtag in Amerika nun mal schlichtweg verboten. Wir sind so erschöpft, dass wir erst nach einer ganzen Weile checken, was da passiert – seltsamerweise lassen die beiden uns in Ruhe – wir dürfen trinken.

In meinem Tagebuch, das ich seit dem ersten Tag führe, ist der weitere Verlauf der Halloween-Nightmare nicht vermerkt. Wollte ich diese Aufzeichnung Helga überlassen, oder habe ich im Unterbewusstsein einfach alles aus meinem Gedächtnis gestrichen? Nein, heute – Wochen später – fällt mir so vieles wieder ein, und ich kann die „weiße“ Seite aus meiner Erinnerung füllen – es war ganz schrecklich-phantastisch-wunderbar!

Es gibt in jedermanns Leben ganz sicher eine Handvoll Tage und Ereignisse, die in ewiger Erinnerung bleiben: Halloween in San Francisco gehört bei mir auf jeden Fall ganz vorn dazu!